Phytopsychologen und andere Helden der Gesellschaft

Liebe Artgenossinnen und Artgenossen,

heute habe ich euch eine von diesen duften pädagogischen Meditationsgeschichten mitgebracht, die man sich früher immer in der Grundschule anhören musste, während man insgeheim eigentlich viel lieber Wände bemalt oder etwas in Brand gesteckt hätte. Wie ihr wisst, sind viele von uns Vegs (eigentlich alle, wenn wir mal ehrlich sind) doofe Heuchler. Und kaltblütig noch dazu. Oder warum ernähren wir uns sonst von Pflanzen, wo die doch so empfindsame, sensible Wesen sind? ….was sagt ihr da? Nur Lebewesen mit Schmerzrezeptoren, einem zentralen Nervensystem und einem Gehirn sind in der Lage, Schmerzen zu empfinden? So ein Unfug. So, und jetzt Augen zu und entspannt euch gefälligst!

* eine CD wird eingelegt. Sanftes Meeresrauschen, Vogelgezwitscher und eine Panflöte.*

„Ein schriller Ton reißt dich aus dem Schlaf. Du schreckst hoch, sinkst aber sogleich stöhnend und mit schmerzerfülltem Gesicht zu Boden. In deinem Kopf dröhnt alles und das furchtbare Pfeifen im Hintergrund macht die ganze Sache auch nicht gerade besser. Du schließt die Augen und bleibst einen Moment auf dem Boden liegen; nach einigen Sekunden versuchst du noch einmal, dich aufzurichten.

Während sich deine Augen an das schummrige Licht gewöhnen, blickst du dich langsam um. Es scheint, als wärst du in einer Art Keller gelandet: Du sitzt auf einem kalten, verdreckten Betonboden; an der unverputzten Wand sind Rohre befestigt, aus denen eine durchsichtige Flüssigkeit tropft; die einzige Lichtquelle im Raum ist eine Glühbirne, die nackt von der Decke hängt und einsam vor sich hin flackert. Wo bin ich denn jetzt schon wieder gelandet, denkst du dir und ärgerst dich innerlich darüber, dass du es bei der Party am Tag zuvor wieder einmal maßlos mit dem Alkohol übertrieben hast. Du bist so in Gedanken versunken, dass du zusammenzuckst, als sich plötzlich etwas neben dir bewegt. Als du zur Seite blickst, siehst du in die (noch schlafenden) Augen einer jungen Frau von einzigartiger Schönheit, Anmut und Grazie. Du freust dich zwar, dass du wohl doch nicht ganz alleine an diesem seltsamen Ort bist und dass deine Begleitung zudem noch so außerordentlich schön, anmutig und grazil ist, gleichzeitig hast du für einen Moment ein mulmiges Gefühl bei der Sache.

Kurzerhand schluckst du deine Bedenken herunter und schüttelst an der (schlanken, feenhaften) Schulter. Mit einem genüsslichen, jedoch eleganten Gähnen wacht die Person neben dir auf und blickt dich verwundert an: „Was ist passiert?“

Du zuckst hilflos mit den Schultern.

„Wir sind in einem Horrorfilm“, beschließt sie, nachdem sie sich ebenfalls kurz umgesehen hat. „Jemand hat uns entführt und jetzt müssen wir uns wahrscheinlich gegenseitig Körperteile abschneiden.“

Du bist dir nicht ganz sicher, ob sie das wirklich ernst meint, deine Augen suchen den Raum aber bereits unbewusst nach potentiellen Waffen ab.

„Ich möchte ein Spiel spielen“, tönt plötzlich eine verzerrte Stimme tönt aus einem Lautsprecher an der Decke.

„Wusste ich es doch!“, flüstert deine Mitgefangene mit einem unheimlichen (und gleichzeitig charmanten) Grinsen, das dir einen gewaltigen Schauer über den Rücken jagt.

„Hinter der Tür zu eurer Rechten“, fährt die Stimme fort, „befinden sich zwei weitere Gefangene. Die beiden haben allerdings nicht so viel Glück wie ihr, wie ihr gleich sehen werdet. Es liegt in eurer Hand, wer stirbt – und wer überlebt.“ Begleitet von einem wahnsinnigen Lachen aus dem Lautsprecher springt die Tür mit einem lauten Knall auf. Ohne zu zögern rennt ihr los.

Deine Leidensgenossin stürmt den Raum als erstes. „Wir retten das Schwein!“, ruft sie entschlossen, bevor du etwas sagen kannst, und eilt zu dem quiekenden Tier, das panisch mit den Beinen strampelt, als könnte es dadurch der kreischenden Kettensäge, über der es baumelt, entkommen. „Willst du mir vielleicht mal helfen?“

Und in diesem Moment dämmert es dir. Bei der attraktiven, hinreißenden jungen Dame handelt es sich in Wahrheit um diese militante, vegane Bloggerin, mit der du dich gestern Abend angelegt hast. Nüchtern betrachtet sieht sie zugegeben gar nicht besonders fanatisch oder vegan aus, deshalb hast du sie auch nicht sofort erkannt. Aber dieser missionarische Eifer, mit dem sie an den Seilen, an denen das Schwein befestigt ist, zerrt, lässt keinen Raum für Spekulation.

Wann haben wir uns denn bitte darauf geeinigt, dass wir das verdammte Schwein retten? Komm mal wieder runter, das wird sowieso geschlachtet. Du lächelst triumphierend. Von einer Veganerin lässt du dir sicher nichts vorschreiben.

Sie dreht sich ungläubig zu dir um. „Bist du eigentlich komplett bescheuert? Willst du lieber den Blumenkohl retten oder was?“

In diesem Moment bemerkst du den Blumenkohl, der unscheinbar in der anderen Ecke des Raumes hängt und ebenfalls gefährlich knapp über einer Kettensäge schaukelt. Du trittst näher an die Pflanze heran. Sie scheint sich nicht sonderlich für dich oder die Säge unter ihr zu interessieren und nascht unbeeindruckt einige Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch das verriegelte Fensterchen an der Außenwand gebahnt haben.

„Kannst du mir jetzt bitte mal mit den Seilen helfen?“, hörst du es militant von der anderen Seite des Raumes rufen.

Pflanzen haben auch Gefühle, schreist du zurück. Manche Arten können Schmerz empfinden und auf äußere Einflüsse reagieren. Du spürst, wie deine Brust selbstgefällig anschwillt. Phytopsychologie und Pflanzenrechte sind eben dein Spezialgebiet, schließlich hat neulich irgendein Facebook-Freund einen Artikel über Brunnenkresse geteilt, dessen Überschrift du gelesen hast. Da kann dir keine doofe Veganerin was vormachen.

Die Essgestörte starrt dich einige Sekunden an und spricht dann mit langsamer, eindringlicher Stimme, als würde sie mit einem kleinen Kind reden: „Das Schwein hat Todesangst und schreit um sein Leben.“

Natürlich bist du kein kleines Kind und willst dich auch nicht wie eines behandeln lassen. Angestrengt starrst du den Blumenkohl an. Du hast plötzlich den Eindruck, dass die Pflanze angesichts der kreischenden Bedrohung unter ihr immer schneller Photosynthese betreibt und aus lauter Angst vor dem nahenden Ende schon ganz welke Blätter bekommt.

Keine Angst, mein Kleiner, ich lasse dich nicht hängen. Mit beruhigender Stimme redest du auf das verschreckte Pflänzchen ein und streckst die Hand nach ihm aus, als plötzlich das Seil nachgibt und der Blumenkohl zerteilt wird. Im nächsten Moment rennt ein aufgewühltes Schwein an dir vorbei.

„Game over“, ertönt es aus dem Lautsprecher.“